Renaissance der Jazzclubs in Harlem

renaissance-Jazzclubs.jpgMit den Jazzclubs ist der Glanz nach Harlem zurückgekehrt. In kleinen Kellern und feinen Lokalen wird wieder gejammt bis in die Morgenstunden
In New York kann das Überqueren einer Straße eine Weltreise sein.

Wer von der Lenox Avenue in Harlem auf die 133. Straße einbiegt, macht diese Erfahrung. Unmittelbar hinter den ramschigen Gemischtwarenläden, den unappetitlichen Imbissbuden und zwielichtigen Hauseingängen der Lenox Avenue beginnt eine Wohnstraße von großbürgerlicher Eleganz.

Linden und gusseiserne Laternen stehen auf dem Trottoir, breite Steintreppen führen zu den Eingängen dreigeschossiger "Townhouses" mit neoklassizistischen Säulen. Man spürt ihn wieder, hier wie an vielen anderen Ecken, den Glanz der Harlem Renaissance – jener goldenen Epoche von 1920 bis in die sechziger Jahre, als das Manhattan zwischen 110. und 155. Straße zum kulturellen Mittelpunkt des schwarzen Amerika aufstieg. Dass am Kellerabgang zur Nr. 148 West 133. Straße eine rote Markise mit dem Schriftzug »Bill’s Place« das Entree zu einem Jazzclub markiert, passt hervorragend in dieses Bild – denn nichts stand so für die Harlem Renaissance wie der Jazz.

Autor: Sebastian Moll

Bill’s Place will anknüpfen an die Zeit, als sich Schwarze und Weiße in Schale warfen, um im berühmten Savoy Ballroom zur Band Duke Ellingtons den Jitterbug zu tanzen. An der Tür wird man von Simone, einer Lady mit roten Lippen und großen Brillantohrringen, wie ein alter Bekannter mit Küsschen empfangen. Ein paar Barhocker stehen um brusthohe Cocktailtische, an den Wänden hängen bunte Lichterketten. Zehn, höchstens zwölf Leute passen in den Kellerraum. Man muss sich gegen die Wand drängen, um nicht halb auf der Bühne zu sitzen. Schwarze Paare aus der Nachbarschaft, meist ähnlich herausgeputzt wie die Empfangsdame, und ein paar weiße Jazzliebhaber aus Downtown haben sich Bier und Wein mitgebracht, weil Bills Privatclub keine Schanklizenz besitzt.

Irgendwann trudeln die Musiker ein, gegen halb elf tritt der Hausherr auf die Bühne – der 63-jährige Bill Saxton, in Harlem eine Saxofonlegende. Ohne viel Getue legt er los mit seiner kompromisslosen Hard-Bop-Session. Seine drei jungen Mitspieler – ein Schlagzeuger, ein Bassist und ein Pianist – sind, wie er später stolz erzählt, die talentiertesten Jazzer, die er auftreiben konnte. Manches Stück dauert länger als eine halbe Stunde, eine Improvisation bringt die nächste hervor. Auch wer nur wenig von Jazz versteht, spürt: Das ist alles andere als Routine. Die Männer spielen nicht allein, um das Eintrittsgeld von zehn Dollar pro Person zu kassieren. Sie ziehen das Publikum in ihren Bann, zwei, drei Stunden lang. Und wenn sie sich nach einer kurzen Pause erholt haben, legen sie noch einmal los – nicht selten bis in die Morgenstunden.

In den kommerziellen Jazzclubs weiter downtown , im weißen Manhattan, sitzen die Gäste an gedeckten Tischen und hören für 50 Dollar oder mehr einer exakt bemessenen 45-Minuten-Inszenierung zu, während sie essen. Hier oben, nördlich der 110. Straße, wird Jazz hingegen wie eh und je zelebriert. Er ist kein Entertainment. Er ist ein Ereignis. So wie damals bei den Samstagabend-Barbecues auf den Plantagen im Süden und später bei den berühmten Rent-Partys im Harlem der dreißiger Jahre, als es üblich war, sich Musiker ins Haus zu holen und gegen geringen Eintritt Feste zu veranstalten, um die Miete für den nächsten Monat zusammenzubekommen.

Als Bill Saxton sich vor fünf Jahren einen Lebenstraum erfüllte und den Keller seines Hauses auf der 133. zum Club umbaute, hatte er genau diese Art, Jazz zu machen, im Kopf. »In meiner Jugend habe ich als Zeitungsjunge gearbeitet«, sagt er. »Auf dem Weg von der 145. zur 125. Straße bin ich mindestens an einem Dutzend Clubs vorbeigekommen. Auf der Lenox Avenue war ein Plattenladen neben dem anderen, mit Lautsprechern an den Außenwänden. Man konnte damals gar nicht anders, als mit dem Jazz aufzuwachsen. Er gehörte in Harlem zum Leben wie der Gospelgottesdienst am Sonntag. Hier fühlten sich Größen wie John Coltrane oder Thelonious Monk zu Hause. Es machte ihnen Spaß, nach ihren Auftritten in den weißen Clubs an der 52. Straße in Schuppen wie dem erst jüngst wiedereröffneten Minton’s Playhouse eine Zugabe zu spielen. Das waren die Uptown-Clubs, die hangs, wo die Leute aus dem Viertel herumhingen, wo der Musiker jeden im Publikum persönlich kannte, wo er sich gehen lassen und gerade deshalb großartig improvisieren konnte.

Doch dann kamen die 70er Jahre und mit ihnen die Drogen und Bandenkriege. Harlem verslumte, das Nachtleben starb. Kein Weißer traute sich mehr über den Äquator der 110. Straße hinaus, die schwarze Mittelschicht wanderte in die Vororte ab. Der Jazz wurde vom HipHop abgelöst. Schwarze Jazzmusiker wie Bill gingen ins Exil und spielten entweder in den neuen Clubs im Greenwich Village oder tourten durch Europa.

Als Bürgermeister Rudy Giuliani mit seiner rabiaten Ordnungspolitik zu Beginn der neunziger Jahre New York befriedete, wurde auch Harlem wieder sicher. Straßenzug um Straßenzug wurden die townhouses und die eleganten alten Apartmenthäuser restauriert. Mittlerweile gibt es Bistros, Galerien und schicke Restaurants, in denen sich die schwarze obere Mittelschicht mit abenteuerlustigen weißen Downtownern mischt. Wohnungssuchende, die der enorme Mietpreisdruck aus dem unteren Manhattan vertrieben hat, siedeln sich hier oben an. Das einstige Ghetto hat sich in ein begehrtes Wohnviertel verwandelt. Doch selbst dort, wo die gentrification noch nicht gegriffen hat, braucht kein Fußgänger mehr um sein Leben zu bangen. Weiße werden zwar skeptisch, aber nicht feindselig beäugt.

Nur für den, der zum ersten Mal an der 145. Straße die Treppen von der U-Bahn zur St. Nicholas Avenue hinaufsteigt, bestätigt sich zunächst das Bild, das er vom Ghetto hat. Zahnlose alte Männer in schmuddeligen Kleidern sitzen auf Hockern vor ihrer Tür und beobachten das Treiben, Jugendliche mit Kapuzenpullovern und dicken Goldketten lungern an der Ecke herum. Straßenhändler verkaufen raubkopierte DVDs, Müllsäcke türmen sich am Bordstein, und von irgendwoher wummert immer ein HipHop-Beat.
Ein paar Häuser von der U-Bahn-Station entfernt liegt der St. Nick’s Pub, eine Kaschemme mit niedriger Decke im Tiefparterre, wo am frühen Abend Schwarze aus der Nachbarschaft an der Theke sitzen, trinken und illegale Wettgeschäfte betreiben. Abends nach zehn Uhr jedoch wird das St. Nick’s zum Treffpunkt der New Yorker Jazzavantgarde. Freitags etwa, wenn der Organist Donnie Smith – alter Harlemer wie Bill Saxton – den Ton zu seiner stadtweit bekannten Free-Jazz-Session anschlägt. Dann warten Dutzende ambitionierte Trompeter, Posaunisten, Saxofonisten und Violinisten stundenlang an der Theke des überfüllten Raums auf ihre Gelegenheit. Sie wollen sich bewähren und ein Stück mit der besten Combo der Stadt spielen.

Wenn Donnie das Zeichen gibt, stehen sie auf und stimmen ein, als ginge es um ihr Leben. Sie werden von alten Männern mit Bogart-Hüten umringt und von der neuen Boheme. Wenn irgendwo die Renaissance der Renaissance greifbar ist, dann hier im St. Nick’s. Es war der erste Jazzclub, der Anfang der neunziger Jahre in Harlem wieder eröffnete. Mittlerweile gibt es ein gutes Dutzend – die Lenox Lounge mit ihrem frisch renovierten Art-déco-Interieur; das EZ’s am Adam Clayton Powell Boulevard, wo nachmittags Musiker zum Kaffee proben und für ihre Abendauftritte werben; das Showman’s auf der 125. oder das American Legion Post – eigentlich ein Kriegsveteranen-Clubheim –, wo donnerstags und sonntags öffentlich gejammt wird.

»Der Jazz war immer da«, sagt Bill Saxton. Selbst als es keine Clubs und keine Szene gab: In den Wohnzimmern der schwarzen Familien ist immer geswingt und gebopt worden. »Der Jazz ist wie Jambalaya«, sagt Celeste Supp, die Betreiberin des St. Nick’s und des Minton’s. Jambalaya – das ist der klassische Südstaaten-Eintopf, den die Schwarzen wie den Jazz aus Louisiana und Alabama mit nach Harlem gebracht haben.
Den Beweis dafür, dass die alte Musik eine lebendige Kunstform ist, liefert der Nachwuchs. Im St. Nick’s beteiligen sich Jugendliche mit Wollmützen und Hängehosen am Jam. Ihre Kleidung weist sie als HipHopper aus. Dass sie Trompete spielen, statt zu rappen, zeigt: Jazz ist der Ursprung, an den man immer wieder zurückkehrt. Auch Nathan Lucas, der montags mit seinem Orgeltrio in der Lenox Lounge spielt, war zwischendurch Rapper, jetzt tritt er im Nadelstreifenanzug auf.

»Als die HipHop-Kultur immer mehr in Richtung Gewalt und Drogen abgedriftet ist, hatte ich keine Lust mehr drauf«, sagt er nach seinem Set im restaurierten Zebra Room, dem Art-déco-Hinterzimmer der Lounge, in dem in den dreißiger Jahren schon Billie Holiday gesungen hat.
Für Menschen wie Lucas oder Celeste Supp ist der Jazz ein Mittel, ihren Stadtteil zurückzuerobern. Ihr Gegner sind nicht mehr Gangs und Dealer, sondern Spekulanten. Die machen seit Giulianis Aufräumaktion fette Gewinne durch Luxussanierungen und Preistreiberei. Die Schlacht um Minton’s Playhouse haben die Alteingesessenen gewonnen. Der Club – Geburtsstätte des Bebop und in den fünfziger Jahren die Bühne von Dizzy Gillespie, Charlie Parker und Thelonious Monk – stand fast drei Jahrzehnte lang leer, bis vor zehn Jahren die Moguln des New Yorker Nachtlebens das große Geschäft machen wollten. Auch Robert De Niro war interessiert. Doch der Stadtteilrat gab Celeste Supp den Zuschlag, die sich bereits mit der Wiedereröffnung des St. Nick’s für das Viertel engagiert hatte.
Darum ist das Minton’s heute wieder eine Art Wohnzimmer für die Anwohner. Regelmäßig schneien sie herein, jeder kennt jeden. Und die Bands, die ihren festen Termin im Wochenplan haben, gehören ebenfalls dazu. Über der Bühne prangt noch immer das Wandgemälde von 1948. Es zeigt eine Band, die im Schlafzimmer einer engen New Yorker Wohnung probt. Das Bild ist Programm: Jazz in Harlem soll einfach dabei sein, immer und überall.

ADRESSEN:

Big Apple Jazz/EZ’s Woodshed, 2236 Adam Clayton Powell Jr. Blvd (131st Street),
Tel. 001-212/2835299. Das kleine Café ist Treffpunkt und Infobörse der Szene. Der Besitzer des EZ’s bietet sogar Führungen durch die Harlemer Jazzclubs an
Big Apple Jazz Webseite

American Legion Post, 248 West 132nd Street, Tel. 001-212/2839701
Kostenlose Jam-Session am Sonntag ab 19 Uhr im Clubhaus eines Veteranenvereins. Halb Familienfeier, halb Avantgarde-Jam
Webseite Harlem One Stop

Bill’s Place, 148 West 133rd Street, zwischen Lenox und A. C. Powell Blvd, Tel. 001-212/2810777. Bill Saxton lädt freitags ab 22 Uhr in seinen Keller. Unbedingt reservieren
Webseite Bill's Place

The Lenox Lounge, 288 Lenox Avenue, zwischen 124th und 125th Street, Tel.001-212/4270253. Seit der Renovierung ist die Art-Déco-Lounge wieder einer der elegantesten Jazzclubs in New York Minton’s Playhouse, 210 West 118th Street, zwischen Seventh und St. Nicholas Avenue, Tel. 001-212/8648346. Gilt als Geburtsstätte des Bebop und hat nach 30 Jahren Pause vor einem Jahr wiedereröffnet. Konzerte täglich ab 21 Uhr
Webseite Lenox Lounge

Parlor Jazz, bei Marjorie Eliot, 555 Edgecombe Avenue, Ecke 160th Street, Apartment 3F. Marjorie Eliot öffnet jeden Sonntag ihre Wohnung im berühmten 555-Apartmenthaus, in dem schon Duke Ellington gewohnt hat, für Hausmusik. Die Konzerte beginnen um 16 Uhr und sind für jedermann offen
Webseite Parlor Jazz

St. Nick’s Pub, 773 St. Nicholas Avenue, Ecke 149th Street, Tel. 001-212/2839728. Abends treffen sich hier einige der besten Jazzer der Stadt. Eintritt frei

Showman’s, 375 West 125th Street, östlich der Morningside Avenue, Tel. 001-212/8648941. Hier spielten schon Lionel Hampton und Duke Ellington. Tägliche Vorstellungen ab 20.30 Uhr
Tap-Jazz-Show-Video at Showman’s bei YouTube