IM GEIST DER OFFENHEIT UND DER AUFNAHME – DAS JAZZFEST BERLIN 2017

Autor: Jan Fritz

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Dem europäischen Zeitgeist, insbesondere dem Trend der Errichtung neuer Grenzen und Mauern, setzte das Berliner Jazzfest 2017 einen Kontrapunkt. Das Festival öffnete sich Musikströmungen vieler Jazzszenen und gab damit wie stets seit 1964 auch ein politisches  Kennzeichen zu aktuellen Ereignissen und Befindlichkeiten der Gesellschaft in der globalen Weltgemeinschaft. Die 53te Ausgabe dieses immer wieder im deutsch-medialen Echo totgesagten, dann jedoch regelmäßig „erstaunlich“ pulsierenden Musikfestivals trug ein letztes Mal die Handschrift des britischen Journalisten und Autors Richard Williams, der die künstlerische Leitung drei Jahre lang innehatte und nun den Stab weitergibt an die Musikerin und Kulturmanagerin Nadine Deventer, die im nächsten Jahr 2018 ihr erstes Jazzfest Berlin kuratieren wird.

Schon in früheren Jahren hatte sich das Jazzfest immer wieder jungen Leuten zugewandt, in den 90ern, als Rap und Acid Jazz „en mode“ war, wurden Spielorte wie zum Beispiel der Berliner Tränenpalast oder später die Konzertsäle der Hochschulen in das Festival integriert. Für diesen Jahrgang entschied sich das Team des Jazzfest Berlin in den Berliner Bezirk Kreuzberg/Neukölln zu gehen und fand mit dem „Lido“ einen idealen Veranstaltungsort, um ein jüngeres Publikum anzuziehen. Hier fanden an den ersten beiden Festivaltagen am 31. Oktober und 1. November Konzerte angesagter Bands wie der Gruppe The Ancestors um den Londoner Saxophonisten Shabaka Hutchings oder das Hiphop Ensemble Sélébéyone des New Yorker Saxophonisten Steve Lehman, der bereits im vergangenen Jahr beim Jazzfest einen nachhaltigen Eindruck mit seinem Oktett hatte. Im Sélébéyone-Projekt Lehman’s wirken zwei MCs mit, die mit ihren Sprechgesängen, sowohl auf Englisch als auch in der Wolof-Sprache, dem meistgesprochenen Idiom Senegals, die Jazz und Hip-Hop-Rhythmen eindrucksvoll verstärken. Die gut besuchten ersten Jazzfestival-Tage sorgten schon einmal für eine gute Stimmung bei den Veranstaltern.

Der Schreiber dieses Textes traf erst am Donnerstag, den 2. November in Berlin ein. Nach dem „Check-In“, dem Abholen des Presseausweises, begrüßte ich einige Kollegen, Musikjournalisten wie ich, die ebenfalls gerade eintrafen, und die ich zuletzt bei der jazzahead Musikmesse in Bremen traf. Bevor das Publikum in Strömen in das Haus der Festspiele Berlin eintraf, konnten Sarah Seidel von der NDR Jazzredaktion und ich einen Hasen vor dem Ort des Festivalgeschehens beobachten, der gelassen und entschleunigt sein Gras mümmelte. War das ein Vorzeichen, ein Symbol für das was noch folgen sollte?

Nach dem Auftakt im Konzertsaal im Haus der Berliner Festspiele trieb es mich in den Jazzclub A-Trane, der während des Festivals gleich drei Abende lang die fortführende Serie „Berlin-London-Conversations“ präsentierte. Begegnungen zwischen Musikern aus Berlin und London und eine Bühne zur gemeinsamen Improvisation bot der Club. Die Idee dazu hatte der britische Musikjournalist und Festivalleiter Richard Williams. Ich verfolgte am Donnerstagabend das Interplay der beiden Londoner Musiker Orphy Robinson am Vibraphone und dem Pianisten Pat Thomas, die auf den US-amerikanischen Wahlberliner und Gitarristen Jean-Paul Bourelly und den deutschen Saxofonisten Frank Gratkowski trafen. Bourelly ist Jazzfans als ein stark von Jimi Hendrix beeinflusster Gitarrist bekannt, der in seiner Musik jedoch sehr viel afrikanische Rhythmen einbezieht. So spielt er seine Licks (Phrasen) auf den Saiten perkussiv fast wie ein Trommler und die Melodie summt oder ruft er dabei gleichzeitig mit. Im Austausch mit den Sounds des Vibrafonisten entstanden einige interessante Passagen, die eben dieses spezielle afrikanische Klanggemisch illustrieren konnten. Während die Einfälle des Saxofonisten mir nicht zusagten, waren sie doch entgegen dieser ideenreichen Improvisation angelegt. Griff Gratkowski jedoch zur Bassklarinette, war das wieder eine andere Sache. Der sonore, tief-hölzerne Ton dieses Instruments ergänzte das Spiel der anderen drei Musiker durch eine weitere, passende Klangfarbe.

Am folgenden Freitag stand die Verleihung des Albert-Mangelsdorff Preis an, der dieses Mal sehr verdienter Maßen an die polnisch-deutsche Saxophonistin und vor allem Komponistin Angelika Nescier ging. Verliehen wird er von dem Verein „Union Deutscher Jazzmusiker“ und Stifter sind die GEMA, der deutsche Komponistenverband und die Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL). Alle zwei Jahre wird der mit 15.000 EUR dotierte Preis an eine herausragende in Deutschland lebende Musikerpersönlichkeit vergeben, die sich durch individuell künstlerische Arbeit hervorgetan hat. Preisträger in der Vergangenheit war zuletzt der Pianist Achim Kaufmann (2015), davor (2013) war es der Posaunist Nils Wogram, der die Jury überzeugen konnte. Die in Köln lebende Musikerin Angelika Nescier erhielt ihn in diesem Jahr. In der Begründung des 7-köpfigen Gremiums liest man (Auszug Zitat): „Angelika Nescier ist seit vielen Jahren eine der interessantesten Musikerpersönlichkeiten der europäischen Jazzszene: eine außergewöhnlich inspirierte, klangmutige Saxophonistin und Komponistin. In ihrer Arbeit für eigene Ensembles und größere Besetzungen zeigt sie eine enorme musikalische Vielseitigkeit – daneben aber auch Authentizität sowie Klarheit im musikalischen Konzept, in dem ihre persönliche Stimme immer durchscheint, und dabei zugleich überall die Freiheit der Improvisation und die Kommunikation mit ihren Mitmusikern / innen im Blick behält“. Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen! Angelika Nescier’s Kompositionen schaffen Raum für alle Musiker, die ihre Stücke spielen und ermöglichen die verschiedensten Spielformen und Improvisationen. Nach der vom Vorsitzenden der Union Deutscher Jazzmusiker Gebhard Ullmann in bester Laune moderierten Preisverleihung spielte sie ein fulminantes, kontrastreiches Set mit dem furios aufspielenden Bassisten Chris Tordini und dem gleichfalls phantastisch agierenden Schlagzeuger Tyshawn Sorey, dem das Jazzfest Berlin 2017 eine ganze Reihe von Auftritten ermöglichte, hier jedoch meiner Meinung am meisten überzeugte. Das feinste und abwechslungsreichste, nuancierteste Konzert des diesjährigen Festivals sah und hörte ich eben hier.

Am Samstag, bereits um 12 Uhr vormittags stand die Filmvorführung des Debütfilms des französischen Regisseurs Louis Malle an, dessen „Ascenceur pour l’echafaud“ von 1958 gleichzeitig einer der besten Streifen des Film-Noir-Genre wie auch, durch den Soundtrack von Miles Davis ein eigenes Jazzfest ist! In der Hauptrolle die junge, kürzlich verstorbene Schauspielerin Jeanne Moreau, die ihren Liebhaber dazu bringt einen fast perfekten Mord an ihrem Ehemann auszuführen. Im Film begegnet sich das Liebespaar kein einziges Mal! Er ist in einem Fahrstuhl gefangen und sie irrt ziellos durch die regennassen Straßen der französischen Metropole an der Seine. Dazu die eindrückliche Musik von Miles Davis, die bereits die wegweisenden Aufnahmen zu dessen „Kind of Blue“ Aufnahmen vorwegnimmt. Am Soundtrack mitbeteiligt waren auch einige französische Musiker wie der damals erst 24-jährige Pianist Rene Urtreger. Ihn hatte das Jazzfestival Berlin eingeladen, ist er doch der letzte Zeitzeuge und Beteiligter an diesen Aufnahmen. Im Anschluss an der Film lud der künstlerische Leiter des Festivals Monsieur Urtreger auf ein öffentliches Gespräch & Mini-Piano-Solokonzert ein, bei dem der Maestro die herrlichsten Anekdoten und charmant-ironische Geschichten über diese Zeit und sein Verhältnis zu Miles Davis zum Besten gab. „Miles war eigentlich eher an meiner Schwester interessiert, als mit mir gemeinsam für die Aufnahmen zu proben“, erzählte der inzwischen 83-jährige Pianist. Sein Vorbild Bud Powell, der zu dieser Zeit in Paris lebende und verehrte US-amerikanische Pianist lobte ihn nie, nicht einmal ein aufmunterndes Wort für den jungen Nachwuchspianisten, kam über seine Lippen. Er befragte Miles dazu, der ihm dann verriet, dass Powell jeden Abend in den Jazzclubs von St. Germain hinter dem Vorhang stand und genau zuhörte und verfolgte, was sein junger Kollege am Klavier machte. „Es war keine leichte Zeit für die europäischen Jazzmusiker den Bebop-Komponisten aus den USA zu folgen, oder deren geniale Musik wirklich voll und ganz zu erfassen“, erzählte Herr Urtreger dem interessierten Publikum. Inzwischen hatte der elegante Herr sich bereits an den Flügel im obersten Stockwerk des Berliner „Institute Francaise“ gesetzt und spielte die Bop-Klassiker in bester Spiellaune. Er verriet dem Publikum weiter, das Monk ein lausiger Pianist gewesen sei, jedoch einer der besten Jazzkomponisten des Jazz war. Auch der bekannteste französische Jazzer Michel Legrand sei kein wirklich guter Pianist, aber ein großartiger Komponist. Erst in seinem fortgeschrittenen Alter verstünde er, was den Bebop und den Cool Jazz ausmacht und könne erst heute diese Kompositionen in angemessener Form interpretieren. Jazz sei keine perfekte Musik, Jazz lebe von den Risiken, die ein Musiker bereit ist, einzugehen, der wahre Jazz sei immer ein Abenteuer! Besonders von Charles „Bird“ Parker war Rene Urtreger damals in Paris angetan. Gleich vier Mal hörte er Parker die Ballade „Embraceable You“ spielen, jedes Mal spielte der Saxophonist ein völlig anderes, atemberaubendes Solo. Nach diesen Ausführungen setzte sich der Pianist wieder ans Klavier und spielte die Klassiker des Jazz in wirklich ausgezeichneter, vollendeter Weise mit einem perlenden, federnden Anschlag. Bei einem guten Glas französischen Weißwein verfolgte ich sein kleines Konzert und amüsierte mich über das sehr informative und humorvolle Gespräch auf dem Podium des Maison de France am Berliner Kurfürstendamm.

Das Jazzfest Berlin 2017 ist und bleibt eine Institution unter den deutschen Jazzfestivals, wird es doch traditionell medial begleitet vom ARD-Verbund der großen Radiosender, wie dem Nord- und Westdeutschen Rundfunk, dem Hessischen- und Bayrischen Rundfunk, dem Kulturradio des Rundfunk Berlin-Brandenburg, Radio Bremen und dem Mitteldeutschen Rundfunk, die allesamt vom Festival übertragen, teils durch Live-Sendungen und produzierten Features, Beiträgen zu den Konzerten. Das Berliner Filmteam BEN BLACK produzierte einen athmosphärischen Videoclip zum Festival, den der Autor dieses Textes moderierte und der bei dessen Online-Magazin JAZZMEDIA & MORE im Nachgang des Festivals unter den Webseiten www.jazzmedia-and-more.com oder bei YouTube unter www.youtube.com/jazzmediaandmore in den nächsten Wochen veröffentlicht wird.


Ein paar Bildimpressionen vom Festival von links nach rechts:
Das Festspielhaus (Haus der Berliner Festspiele)
Der Autor beim Bewerben von Jazzvinyl
Monsieur René Urtreger
Albert-Mangelsdorff-Preisträgerin 2017 Miss Andrea Nescier
Artist in residence Mr. Tyshawn Torey